Können Ameisen lachen?

Über den Umgang mit dem Fremden - von Andreas Rochholl

Ungewöhnliche Perspektiven auf Fremdheit - Andreas Rochholl bei Dreharbeiten im Iran

Wenn Ameisen im Chor lachten und dabei jede einzelne Ameise eine naturgemäße Eigenart des Lachens besäße, dann entstünde ein Mischklang voller Fremdheit und Faszination. Aber wen interessiert das? Ameisen können gar nicht lachen, oder? Außerdem: Ameisen sind kein Markt, keine Zielgruppe. Ihr nicht real existierendes Lachen scheint nicht von verwertbarem allgemeinen Interesse. Ein Komponist, der die Klangstruktur eines Kohleflözes mit einem Mikrofon aufzeichnet, oder einer, der den Wind zu imitieren versucht durch das fast kaum hörbare 100-fach verstärkte Geräusch von Saxophonklappen, forscht in den gleichen Mikrobereichen des Lebens wie jene Hauptfigur in A. Bariccos Roman „Oceano Mare“, die ein Bild über das Meer malt mit nichts anderem als Meerwasser. Zu sehen ist: Nichts. Ein Horror Vacui.

Das Fremde, Unbewußte, auch Ungehörte, ist psychologisch gesehen Projektionsfläche für alles Ungute, Unnütze, Feindliche und wird zunächst meist affekthaft entwertet. Es wundert nicht, dass auch die Neue Musik mit diesem seelischen Tatbestand umgehen muss und so öfters Aggression und Ablehnung erfährt. Neu ist das nicht. Lobenswert ist es deshalb, dass die Bundeskulturstiftung das Fremde der Neuen Musik aus dem Bannkreis des Missachteten und Ungeliebten befreien möchte. Aber welche Erwartungen weckt man mit dieser Integrationsmaßnahme? Muss oder kann die Wirkung dieser mittelfristigen Förderung messbar sein?

Grundvoraussetzung im Umgang mit dem Fremden ist die bedingungslose Akzeptanz, dass das Fremde wirklich fremd ist und häufig auch unüberwindbar fremd bleibt.  Alle verharmlosenden, sicherlich gut gemeinten Vermittlungsansätze, die auf eine einfache Überwindbarkeit des Fremdseins setzen, unterschätzen das Energiepotential des Fremden im Konstruktiven wie im Destruktiven.

Ein heikles Thema im Bereich der Wertung und Förderung von zu beheimatenden Kulturinhalten ist dabei die nicht hintergehbare Subjektivität aller am Prozess Beteiligter. Wer Fremdes vermitteln will, sollte den eigenen Zustand des Fremdseins im Gegenwärtigen selbst verinnerlicht haben. Er sollte sich bewusst sein, dass auch er unter der Wirkung des Fremdseins ein unfrei Handelnder oder Reagierender ist: Befangen mit Vorurteilen, angereichert mit Ängsten und einer zuweilen erdrückenden Überforderung im Anspruch, auf der Höhe der Zeit sein zu sollen. Wer sich seiner Gegenwart und Bewusstheit zu sicher ist, schwebt mitunter im Narkosezustand des Dünkels oder einer akademisch, politisch und wissenschaftlich determinierten Wirklichkeit.

Neue Musik ist nicht nur ein bisschen fremd. Die geistige Haltung der Werkprozesse und der Produktionsbedingungen spiegeln oft mehr gegenwärtige Welt wider als zunächst hörbar und für viele ertragbar ist. Die scheinbar vertraute alltägliche Gegenwart wird uns in ungewohnten Klängen und Rhythmen zurückgeschleudert, deren wahrnehmbare Gestalt ein an Pop und Klassik gewöhntes Ohr nicht ohne inneren Widerstand mit der eigenen Gegenwart in Zusammenhang bringen möchte. Das ist eine Überlebensstrategie unseres Gehirns und der Seele. Überflutung ist Existenz bedrohend. Tiefenpsychologisch formuliert: Wenn das Bewusste vom Unbewußten her sich bedroht fühlt, reagiert es mit Abspaltung und Verdrängung.

Neue Musik hat kaum Publikum. Was wissen wir denn über die Ursachen, wenn wir einmal die Grenzen der eigenen Werte und Wahrnehmungen verlassen? Genau genommen wissen wir nämlich fast nichts darüber. Ja, es gibt offensichtliche kultur- und bildungspolitische Versäumnisse. Ja, die öffentlich-rechtlichen Medien haben ihre Verantwortung und die Eltern und Lehrer auch. Das alles zusammen erklärt das Phänomen trotzdem nicht. So einfach ist das nicht. Lobbyisten brauchen aber diese reduzierten Ursachen um Forderungen und Förderung zu aktivieren. Diese Argumentationen, oft klug und stabil gebaut, tragen die selbstbewusste Voreingenommenheit eines Wissens, das vorgibt, komplexe Prozesse zu verstehen und steuern zu können. Und wer prüft die Ergebnisse? Zwischen den gut gemeinten Planungen, den dadurch ausgelösten Förderprozessen und dem Ende der Maßnahme liegt die Wirklichkeit.

Neue Musik hat zu wenig Publikum. Dieses Phänomen bleibt im Wesenskern fremd und unverstanden, so verständlich die soziologischen und kulturtheoretischen Argumente auch versuchen es zu beleuchten.  Wir können uns der Tiefe dieses Fremdseins nur durch Annäherung, Risiko und Demut nähern. Nicht durch Plan-Soll-Erwartung und evaluierbare Ergebnisse. Wer etwas erwartet, sieht vielleicht nicht, was wirklich ist.

Dem Fremdsein Vermittlung anbieten bedeutet unlimitierte Offenheit und absichtslose Geduld.

Nein, Ameisen können in der analogen Welt nicht lachen. Aber es klingt trotzdem unsagbar berührend, wenn sie es tun.

von Andreas Rochholl, geschrieben für die Zeitschrift “Positionen – Beiträge zur neuen Musik” Juni 2008